Voehls Welt März 2011
Von Uwe Voehl. Illustration von Ullrich Tasche

Ich liege im Sterben. Das Blut spritzt nur so aus mir heraus. Im Nu ist der ganze Tresen versaut. Jupp, der Wirt, bleibt cool: „Nicht lang schnacken, Kopf in‘ Nacken!“
Ich tue, wie mir befohlen. Hüsni kriegt gleich die Panik. Mit seinem iPhone stochert er im Internet herum: „Scheiße, wo iss näxte Notarzt?“
„Der Mann verblutet, haben Sie denn hier keine Ambulanz?“, empört sich ein Kurgast. Wir lassen sie hier im Ungewissen, weil sonst würde ja keiner mehr kommen. Die Kurgäste leben in einer Art potemkinschen Dorf. Keine Ahnung, wie der hier bei Jupp gestrandet ist.
„Sie müssen den Kopf nach vorne halten“, erklärt der Kurgast. „Und den Nacken mit einem kalten Tuch befeuchten …“
Jupp wirft mir den Scheuerlappen zu. „Nimm den.“ Unterdessen scheint Hüsni endlich die Warteschleife überwunden zu haben.
„Hast du Riesen-Problem, Alter“, erklärt er schließlich. „Gibt kein Notdoktor in ganz OWL.“
„Und im Lemgoer Klinikum?“ „Heute Sonntag. Ruhetag. Musst nach Hannover. Dort iss näxte Krankenhaus.“
„Bis dahin bin ich verblutet!“, schreie ich hilflos.

Von draußen kommt eine Frau hereingelaufen. „Es brennt, Leute! Genau gegenüber!“ Wir brechen in Gelächter aus. Selbst ich. Galgenhumor. Nur der verstörte Kurgast lacht nicht mit. Der versteht nur noch Bahnhof.

Die mit der Feuermeldung setzt sich erst mal an den Tresen und bestellt ein Bier: „Wenigstens meinen Durst kann ich noch löschen.“ Währenddessen erklärt Jupp dem Kurgast, warum wir gelacht haben: „Die nächste Feuerwehr ist ebenfalls in Hannover. Die Feuerwehren haben sie hier noch vor den Arztpraxen abgeschafft. Sporthallen? Ach was, Sportler sind harte Burschen, die brauchen kein Dach überm Kopf. Und schwimmen kann man auch in der Bega. Schulen? Die Kinder sitzen zu Hause vorm Bildschirm und lernen per Fernkurs. Ist doch viel bequemer. Kindergärten? Altenheime? Mittlerweile passen die Alten auf die Kinder auf oder die Kinder auf die Alten, je nach Demenzgrad – Synergieeffekt nennt man das. Klar, der Kurpark ist nicht mehr so gepflegt wie früher. Der letzte Gärtner hat sich an diesem künstlichen Baum vorm Rathaus erhängt. Das einzig Gute war: Irgendwann haben sie auch die Knöllchenjäger nicht mehr bezahlen können …“
„Und die Polizei?“„Einige haben sich als Wachpersonal selbstständig gemacht. Ansonsten sorgen jetzt ein paar Jugendgangs für Ordnung. Natürlich nicht umsonst … Übrigens ist auch die Kanalisation nicht mehr in Betrieb. Wir schöpfen aus Brunnen. Na ja, und genauso marode wie die Wasserleitungen waren irgendwann die Elektrokabel.“ Jupp zündet eine neue Kerze an. „Übrigens haben sie irgendwann auch die Müllabfuhr abgeschafft.“
„Gleich nach den Krankenhäusern“, ergänze ich. „Einmal im Monat kommen ein paar LKWs aus Polen und nehmen den Abfall und auch gleich die Leichen mit. Die Friedhöfe wurden sich selbst überlassen. Jetzt streunen da nur noch Hunde durch die Gräberreihen. Die Verwaltung wurde vollends aufgelöst, alle städtischen Gebäude verkauft. Im Rathaus kann man jetzt „Blind Dinner“-Abende veranstalten.“
„Und wenn Sie Ihr Auto anmelden müssen?“ „Müssen wir nach Flensburg.“ Mittlerweile habe ich mich soweit erholt, dass ich schon wieder aufrecht sitzen kann. Zum Glück ist es nur Nasenbluten gewesen.

Da erwache ich. Ich habe tatsächlich alles nur geträumt. Die Sonne scheint friedlich ins Zimmer. Draußen fährt ein Wagen mit Sirenengeheul vorbei.

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Schöne Geschichte! Ein Traum mit Zukunft!