
Die wichtigste Regel für ein selbstbestimmtes Leben
Michael Gervais
240 Seiten
Softcover: 20,00 €
Ratgeber
Redline
Wir leben in einer Welt der Selbstoptimierung. Und genau deshalb haben es Bücher wie das von Michael Gervais üblicherweise denkbar leicht, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Du kannst glücklicher, reicher, schöner und – natürlich – die beste Version von dir selbst werden“, lauten die vollmundigen Versprechen. Wer will das nicht? Allerdings verpufft die Motivation für Veränderungen häufig schon nach der Lektüre des Klappentextes – falls sie sich je eingestellt haben sollte. Bei diesem Buch ist das durchaus anders. Und vielleicht ist gerade deshalb dieser Ratgeber nicht in den Bestseller-Listen des deutschen Buchmarktes aufgetaucht.
Schon der Untertitel dieses Ratgebers und der zusätzliche Sub-Sub-Titel machen deutlich, dass Michael Gervais für das Platzen zahlreicher Lebensträume ein generelles Hindernis identifiziert hat: FOPO. Oder anders: die Angst davor, dass andere Menschen eine schlechte Meinung von einem selbst haben. Fear of People’s Opinions. Angst, Furcht, Unsicherheit – alles Begriffe, die nicht nach Selbstverwirklichung klingen, sondern nach einem persönlichen Handicap. Wer will sich das schon eingestehen?
Doch wer sich darauf einlässt, wird schnell feststellen, dass diese „Schwäche“ kein individueller Makel, sondern ein überlebenswichtiger Mechanismus des Menschen ist. Schon in der Steinzeit entschied die Meinung der Gruppe darüber, wer dazugehörte – und wer mit denkbar schlechter Überlebensprognose allein durch die Wildnis streifen musste. Wer eine Rolle im Clan hatte, lebte. Wer ausgeschlossen wurde, starb.
Der evolutionäre Fluch
Die Jahrtausende zogen ins Land, die Menschen bauten Städte, erfanden Strom, das Internet und die Möglichkeit, Essen an die Haustür geliefert zu bekommen. Was sich nicht verändert hat: das FOPO-gesteuertes Gehirn. Es ist ein treuer, aber übervorsichtiger Begleiter, der seinen Besitzer auch heute noch vor sozialer Ablehnung schützen will. Dazugehören ist schließlich nach wie vor überlebenswichtig – auch wenn uns die Wundercoaches und Markenmacher dieser Welt unseren Wunsch nach Gemeinschaft mit jedem ihrer Influencer-Posts abspenstig machen wollen. Individualität first – so ihr verkaufsträchtiges Credo.
Gervais zeigt, dass FOPO längst kein Problem von schüchternen Menschen ist. Es ist überall. Und es wird kultiviert. Der CEO, der sich nicht traut, eine unpopuläre Entscheidung zu treffen. Der Künstler, der sein Meisterwerk nie veröffentlicht, weil er Angst vor Kritik hat. Der Ausnahmesportler, der im entscheidenden Moment blockiert, weil er nicht als Versager dastehen will. FOPO ist der unerkannte Saboteur in den Köpfen. Und Gervais sagt: Raus damit!
FOPO killen – aber richtig
Klar, klüger sein als das eigene Hirn ist nicht gerade leicht. Sonst würden alle, die sich schon mal gesagt haben: „Ach komm, scheiß drauf!“, tatsächlich aufhören, sich um Meinungen anderer zu scheren. Die Sache ist: Das menschliche Gehirn liebt Muster. Und FOPO ist ein tief verankertes Muster, das mit simplen „Denk nicht dran“-Floskeln nicht aus dem Weg geräumt werden kann.
Gervais schlägt deshalb einen anderen Weg vor: Verstehen und Bewusstsein schaffen, Kontrolle übernehmen, Muster aktiv umlernen. Wer die Mechanik hinter FOPO versteht, kann sie entwaffnen. Der Trick? Den Fokus radikal verschieben und sich selbst nicht als Nabel der Welt sehen. In den Filmen der allermeisten Menschen um uns herum spielen wir ohnehin nur eine kleine Statistenrolle. Also: Weg von „Was denken die anderen?“ hin zu „Was ist mir wirklich wichtig?“. Und genau das macht Die wichtigste Regel für ein selbstbestimmtes Leben zu mehr als einem Standard-Ratgeber.
Olympioniken, CEOs, Navy SEALs
Was Gervais‘ Buch besonders stark macht, sind die Beispiele aus seiner eigenen Arbeit. Olympioniken, Fortune-500-CEOs, Navy SEALs – er hat mit denen gearbeitet, die Höchstleistung unter Druck bringen müssen. Sie alle sind schon mal an der Angst vor den anderen gescheitert. Doch die Besten trainieren ihren Kopf genauso wie ihren Körper. Sie warten nicht darauf, dass die Angst verschwindet – sie handeln trotzdem.
Dieses Prinzip zieht sich durch das ganze Buch. Gervais hält keine Motivationsreden, sondern gibt einfache, mitunter verblüffende Anleitungen.
Fazit: Ein Buch, das bleibt
Gervais verspricht nichts, was nicht machbar wäre. Er panscht keinen Zaubertrank gegen Selbstzweifel zusammen, sondern entwickelt Werkzeuge, mit denen das eigene mentale Fundament neu errichtet werden kann. Und das sogar einfacher und solider, als man es sich vielleicht vorstellen mag. Keine „Fühl dich besser“-Floskeln, kein New-Age-Optimismus. Sondern eine wissenschaftlich fundierte, aber unfassbar praxisnahe Methode, um FOPO Schritt für Schritt aus dem eigenen Leben zu kicken – ohne die Mitmenschen dabei zu vergessen.
Rainer Tautz