Pearly Everlasting
Tammy Armstrong
368 Seiten
Hardcover: 25,00 €
Roman
Diogenes

Man muss sich das so vorstellen: Kanada, 1934. Endlose Wälder, Schnee bis zum Knie und höher, ein einfaches Holzfällercamp irgendwo im Nirgendwo, nahe der Ostküste. New Brunswick. Und mittendrin Pearly Everlasting – fünfzehn, mit wachem Blick und einem Bären im Schlepptau. Bruno heißt der, seit ihrer Geburt dabei, mehr Bruder als Haustier. Eine Erscheinung, die für Aufmerksamkeit sorgt – nicht nur im Camp. Dann stirbt ein Mann – der rücksichtslose Vorarbeiter Swicker – und der Neffe des Toten zeigt auf Bruno: „Der war’s!“ Nur weiß eigentlich jeder im Camp, dass das nicht stimmen kann. Aber wer oben steht, bestimmt, wo’s langgeht. Bruno wird verschleppt und möglicherweise verkauft. Nicht aus Angst vor dem Tier. Sondern aus Habgier.

Die kanadische Autorin und Lyrikerin Tammy Armstrong erzählt diese Geschichte mit einer sprachlichen Wucht, die man selten findet. In Pearlys Welt ist nichts nüchtern, nichts glatt, nichts komfortabel. Armstrong findet eine Sprache, die Pearlys Wahrnehmung spiegelt – lebendig, ruhelos, voller Geruch und Geräusch. Selbst der Wind nimmt hier Gestalt an. Und je tiefer man in diese Welt eintaucht, desto märchenhafter wird das alles – aber nie als Eskapismus, sondern als etwas Grundsätzliches: Die Welt ist beseelt, aber rau, manchmal freundlich, meistens gefährlich. Und am gefährlichsten wird sie, wenn Menschen ins Spiel kommen.

Denn der wahre Feind ist nicht die Wildnis. Und es sind auch nicht die einfachen Männer des Camps – sie sind ehrlich, solide, mit harter Haut und weichem Kern. Die, von denen die Bedrohung ausgeht, sind nur wenige. Aber es sind die, die Macht ausüben – aus Missgunst, Gier, Eitelkeit. Sobald so jemand die Natur betritt, bleibt sie nicht mehr, wie sie war. Die Axt, einst Werkzeug, wird zur Drohung. Die Zivilisation, angeblich Fortschritt, ist in Wahrheit ein trojanisches Pferd voller Abgründe.

Pearly macht sich auf, zu Fuß, durch Schnee und Wald, um Bruno zu finden. Wenig später zieht der junge Ansell los. Er sucht Pearly und will sie heil nach Hause bringen. Während sie sich getrennt durch die zivilisierte Welt und die Wildnis schlagen, wächst beidseitig das, was man vielleicht „Liebe“ nennen könnte – oder zumindest eine zarte Ahnung davon, dass da mehr ist als nur Freundschaft.

Der Weg führt Pearly schließlich nach Bracken – eine Stadt mit Straßen, Autos, Kirche, einer großen Axtfabrik und einer mächtigen, skrupellosen Familie. Hier, im letzten Drittel des Romans, verlagert sich das Geschehen endgültig vom Wald in die vermeintlich geordnete Welt der Zivilisation. Doch die Bedrohung bleibt, nimmt nur eine andere Form an – und wird sogar noch größer. Während sich Pearly in der Wildnis behaupten konnte, ist sie den tückischen Attacken der bösartigen Brüder Harold und Gerald fast schutzlos ausgeliefert. Die Kontraste zwischen Stille und Lärm, Freiheit und Zwängen, Natur und Macht werden in Bracken eindrücklich sichtbar – und bleiben haften. Schafft Pearly es zurück ins Camp?

Pearly Everlasting ist ein wilder, bildgewaltiger Roman, der eine Fabel erzählt. Ohne Belehrung – denn gegen die Abgründe der Menschen gibt es ohnehin keine Mittel oder Argumente. Der Roman erinnert an ein Märchen – doch wird am Ende alles gut? So oder so: Pearly ist eine Heldin. Sie wird nie laut, sie handelt. Eine Heldin, die durchhält und die Herzen jedes Menschen gewinnt, der es nicht nur gut mit sich selbst meint. Ein Mädchen, das sich von der Kälte nicht aufhalten lässt – weder der draußen, noch der in den Herzen mancher Leute.

Ein Buch wie ein langer Wintertag: kalt, schön, überraschend hell.

ta

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