
Im Schnee
Tommie Goerz
176 Seiten
Gebundene Ausgabe: 22,00 €
Roman
Piper
Es ist Winter, und alles ist still. Eine Stille, die nicht nur von Schnee und Kälte kommt, sondern auch von einer Gemeinschaft, die langsam zu Ende geht. Ein kleines (fiktives) Dorf irgendwo in Oberfranken, wo sich der Alltag längst nicht mehr um wichtige Aufgaben und Abläufe dreht, sondern nur noch dahintreibt – flockenweise, wie die Erinnerungen von Max, dem alten Mann am Fenster. Sein bester Freund Schorsch ist tot. Ein weiteres Leben, das gegangen ist, wie so viele vor ihm – leise, fast unbemerkt. Mit Schorsch stirbt ein weiterer Teil einer ganzen Dorfgeneration – einer, die einst das Leben im Beschaulichen geprägt hatte, nun aber nach und nach verschwindet.
Ein fränkisches Dorf, eingeschneit, stillgelegt, als hätte jemand die Zeit angehalten. Max, 80 Jahre alt, steht am Fenster seiner Stube, schaut in die weiße Leere. Dann die Totenglocke. Sein bester Freund Schorsch ist gestorben. Schorsch, der sich erst im Herbst noch „seine“ Äpfel aus Max‘ Garten geholt hatte („Den Martini hat er geliebt, weil der so schön rund ist und saftig und sich bis Weihnachten hält.“), kommt nicht mehr. Nie mehr. Ein weiteres Leben, das geht, eines von vielen. Kein Aufsehen, kein Drama – aber ein Abschied.
Was bleibt ist die Totenwacht
In der nächtlichen Totenwacht kommen die, die Schorsch kannten – und die ihn überlebt haben – noch einmal zusammen. Manche mögen sich, auf andere wurde schon immer herabgeschaut. Aber auch das ist in Ordnung, weil es nun mal so ist. Ausgerechnet der traditionelle Brauch der Wacht, der das schrittweise nahende Ende der Gemeinschaft schonungslos offenbart, ist das letzte verbindende Element, das noch Halt zu geben vermag. Und es verdeutlicht durch gemeinsame Erinnerungen und ein Mon-Chéri-Ritual, dass jeder einzelne Dorfmensch ein Teil von etwas Größerem ist – oder war.
Dieses Größere, die Dorfgemeinschaft, war über viele Jahrzehnte identitätsstiftend. Sie verlieh Schwarmstärke und bot Schutz. Schutz vor jeder Veränderung, die überwiegend als Bedrohung verstanden wurde. Schutz, der die Abwehrmechanismen des Dorfes allerdings auch brutal und ausgrenzend nach innen lenken konnte. Der Autor skizziert einen Mikrokosmos, der immer alles bewahren wollte, auch wenn es längst am Bröckeln und nicht immer gut war. So wurde einst das leerstehende Schulhaus abgerissen, damit keine Geflüchteten dort untergebracht wurden. Ein Kind mit roten Haaren wurde vor der Dorfgemeinschaft versteckt, weil es „anders“ war. Diese Dörfer, diese Gemeinschaften funktionierten nach eigenen Regeln, die von niemandem infrage gestellt werden durften. Zerfallen sind sie dennoch – oder vielleicht auch gerade deshalb.
Nicht dunkel, nicht hell
Insofern ist Im Schnee auch kein Buch über Nostalgie. Goerz verklärt nichts, beschönigt nichts. Der Schnee, der alles bedeckt, ist keine romantische Kulisse, sondern eine Metapher für die Vergänglichkeit und das Vergessen. Die Erinnerungen an Schorsch sind noch da, aber sie werden blasser. Und die Menschen, die sie noch bewahren könnten, verschwinden ebenfalls nach und nach.
Und doch ist Im Schnee kein dunkles Buch. Denn Goerz’ Minimalismus erlaubt keine Sentimentalität, nur Wahrheit. Ihm geht es nicht um Entschuldigungen, die Bitte um Verständnis oder große Abschiede, sondern nur um das leise Verschwinden. Die Sache an sich. Es ist ein Buch, das mit jedem gelesenen Satz kälter wird, um am Ende doch eine seltsame Wärme zu hinterlassen. Ein wuchtiger, leiser und kurzer Roman über das Altern, den Verlust und das, was bleibt. Oder besser gesagt: über das, was verschwindet.
Rainer Tautz